Die chinesische Literatur: Eine Einführung by Sabina Knight & Martina Hasse
Autor:Sabina Knight & Martina Hasse [Knight, Sabina & Hasse, Martina]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Fachbücher, Geschichtswissenschaft, Staatenwelt, Asien, China, Politik & Geschichte, Geschichte nach Ländern, Belletristik, Literaturkritik & -theorie
ISBN: 9783159611839
Herausgeber: Reclam Verlag
veröffentlicht: 2016-11-08T23:00:00+00:00
Spätere klassische Novellen und Erzählungen
Fast alles an Lyrik, Essays und Prosa wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert in klassischer Schriftsprache verfasst. Als zur fiktionalen Literatur in klassischer Schriftsprache solche in der Umgangssprache hinzutrat (ab dem 12. Jahrhundert), erhielten die Werke in der hochgestochenen Schriftsprache ein deutlicheres Gepräge. Wenn Schriftsteller in der gehobenen Sprache schrieben, betonten sie damit ihre Konformität mit den traditionellen konfuzianischen Werten der Mäßigung, Kindesehrfurcht und Rechtschaffenheit. Diese klassischen Novellen gaben sich oft als Berichte aus verlässlichen Quellen von Verwandten, Literatenfreunden, Mönchen oder Bürgern aus. Gelehrte sammelten solche Geschichten zunehmend, um bestimmte Denkweisen zu unterstützen. Der Hanlin-Beamte und spätere Vizekanzler HONG MAI (Hóng Mài 洪邁; 1123–1202) etwa widmete sich sechzig Jahre lang der Zusammenstellung der seinerzeit umfangreichsten Sammlung mündlich überlieferter Anekdoten unter dem Titel Berichte des Yijian (Yíjiān Zhì 夷堅志); das Werk ist entsprechend dem neokonfuzianischen Glauben an ein wohlgeordnetes Universum eingeteilt.
PU SONGLING’s (Pú Sōnglíng 蒲松龄; 1640–1715) Wundersame Geschichten aus dem Studierzimmer eines Müßiggängers (Liáozhāi Zhìyì 聊齋志異)41 aus dem Jahr 1766 setzen sich über eine solche wohlgeordnete Struktur hinweg und verwischen die Grenzen zwischen »Berichten von seltsamen Begebenheiten« und den als »Wundergeschichten« bezeichneten Novellen; sie stellen den Gipfelpunkt der Erzählungen in klassischer Sprache dar. Trotz seiner Gelehrsamkeit, die seine frühen Erfolge bei den Beamtenprüfungen auf Kreisebene belegen, bestand Pu nie die Prüfungen auf Provinzebene, geschweige denn auf Hauptstadtebene, was für eine Anstellung im Staatsdienst notwendig gewesen wäre. Diese beruflichen Enttäuschungen sowie seine Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeiten müssen seine bissigen Satiren auf die Anmaßungen der Macht noch befeuert haben.
In nahezu fünfhundert Geschichten und Anekdoten über Liebende, Gespenster, Fuchsgeister und Dämonen arbeitet Pu Songling mit seinem ironischen Humor, seiner verhaltenen Erotik und seiner großen Bandbreite an Themen das Unheimliche im Leben heraus. Wenn seine Charaktere die Grenzen zwischen den Sphären des Natürlichen und des Übernatürlichen überschreiten, bringen die Erzählungen auch das Fließende im Selbst und in der Sexualität zum Ausdruck.
An den Geschichten mag erstaunen, wie unverblümt Sexualität dargestellt wird, wie schwankend die erotischen Beziehungen sind und mit welcher Unbekümmertheit die Liebespartner gewechselt werden. Während einige weibliche Charaktere, häufig Gespenster und Fuchsgeister, nicht anders können, als ihre Geliebten auszusaugen und krankzumachen, verfügen die menschlichsten dieser Geister über eine erstaunliche Selbsterkenntnis und Integrität. Die Novelle »Lotusduft« (蓮香) erzählt von einem Scholaren, der durch exzessiven Sex fast zu Tode gekommen wäre, als er sich mit zwei lüsternen Geliebten zugleich abgibt, deren eine sich als Fuchsgeist entpuppt und die andere als Gespenst. Mit vereinten Kräften halten ihn die beiden Rivalinnen am Leben und teilen ihn schwesterlich, bis das Gespenst unerklärlicherweise verschwindet. Nachdem es in eine reiche Familie wiedergeboren und zu einer begehrten Heiratskandidatin geworden ist, hält der junge Scholar um ihre Hand an. Und um den Zorn seiner Fuchsfee zu beschwichtigen, heiratet er diese ebenfalls. Die drei erfreuen sich ihrer Dreiecksbeziehung, bis die Füchsin im Kindbett stirbt und das wiedergeborene Gespenst übrig bleibt, um deren Sohn aufzuziehen. Dann, einige Jahre später, bringt eine Alte dem Paar ein kleines Mädchen, von dem sich herausstellt, dass es die wiedergeborene Füchsin ist. In inniger Freundschaft über zwei Lebensspannen
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